Notre-Dame-de-l’Europe

FAZ 17.04.2019Foto

Notre-Dame-de-l’Europe

Foto Colourbox, entnommen aus der FAZ vom 17.04.2019

Am Abend des 15. April 2019 haben wir Besuch von unseren französischen Freunden. Während des Abendessens meldet sich mein Sohn mit dem Aufschrei: die Kathedrale von Paris brennt! Komischerweise vermutet niemand von uns einen terroristischen Anschlag. Auch lassen die Bilder des brennenden Dachstuhls eher darauf schließen, dass es sich um einen Unfall bei Montagearbeiten am eingerüsteten Dach handeln muss. Gleichwohl ist auch dieses schreckliche Unglück ein weiteres böses Zeichen im Europa unserer Tage.

Im Jahr 1851, während der II. Französischen Republik unter Louis Napoléon Bonaparte, der sich später zum Kaiser der Franzosen proklamierte, gab die französischen Commission des monument historiques eine fotografische Expedition in Auftrag. Ziel waren die Monumente Frankreichs, fotografiert von den renommiertesten französischen Fotografen:

Gustave Le Gray (Loireschlösser)

Auguste Mestral (Zentralfrankreich)

Édouard Baldus (Südosten)

Hippolyte Bayard (Bretagne, Normandie)

Henri Le Secq (Nordosten)

Über 300 Fotografien entstanden zu dieser Zeit, zum Teil sind sie verschollen. In einem wunderbaren Bildband von Anne de Mondenard aus dem Jahr 2002 sind etliche dieser französischen Denkmäler versammelt. Das Besondere der Bilder ist ihre Ruhe, Erhabenheit und Würde. Aufgrund der eingeschränkten damaligen technischen Möglichkeiten findet sich auf kaum einem der Fotos ein Mensch. Die langen Belichtungszeiten führten zu Bildern von extremer Tiefenschärfe, die Silberplatten und Bromabzüge bewirken eine seltsame poetische Atmosphäre. Eines dieser Bilder, fotografiert von Hippolyte Bayard, zeigt das Portal Saint-Étienne der Kathedrale Notre-Dame. Das Foto entstand bereits einige Jahre früher, 1847. Erst auf den zweiten Blick erkennt der Betrachter, dass zu dieser Zeit offensichtlich Baubetrieb vor der Kathedrale herrschte. Riesige Marmorblöcke liegen dort verstreut. Heute wissen wir, dass es sich um umfassende Sanierungsarbeiten handelte, die im Zusammenhang der Bauarbeiten unter der Leitung Eugène Violett-le Duc’s standen und erst 20 Jahre später ihren Abschluss fanden.

Viollet-le-Duc war der führende Denkmalpfleger Frankreichs, seine Arbeiten auf dem Gebiet der Mittelalterforschung waren wegweisend. Gleichwohl ist er bis heute umstritten, war doch sein konservatorischer Ansatz sehr interpretativ, teilweise auch gelenkt von Vorstellungen, die mit dem ursprünglichen Bauwerk nicht mehr viel gemein hatten. Unter ihm entstand an Notre-Dame der Vierungsturm, der beim Brand am Dienstag Abend spektakulär in das Kirchenschiff stürzte.

Aus meiner Sicht ist es ein Wunder, dass so viel Inventar gerettet werden konnte. Wie weit die Schäden am Bauwerk selbst gehen, muss nun geklärt werden. Sicher ist jedoch, in 5 Jahren wird das Gebäude nicht wieder errichtet sein. Allein die Konservierung und Inventarisierung, die Reinigung, Bausicherung und Dekontaminierung werden Jahre brauchen. Geld allein ist dabei nicht ausschlaggebend, vielmehr wird es auch darum gehen, überhaupt eine genügende Anzahl von Fachleuten, Restauratoren, Handwerkern aufzutreiben, die über Jahre dort zum Einsatz kommen müssen. Vielleicht könnte Notre-Dame ein Gemeinschaftsprojekt aller Europäer werden, schließlich sind die Seine-Insel und die auf ihr stehende Kirche fast tausend Jahre Mittelpunkt Europas gewesen. Und vielleicht kann die mittelalterliche Tradition der Bauhütte mit ihren reisenden Handwerken und Ingenieuren auch heute ein gutes Zeichen für den Zusammenhalt Europas sein, indem sie sich dort, in Paris, einfinden und gemeinsam am Wiederaufbau dieses bedeutenden monument historique arbeiten.

BB, April 2019